Wachsende Unruhe

Wie die jüdische Gemeinschaft im Freistaat damit umgeht, dass die AfD immer stärker wird. Ein Besuch in Dresden und Leipzig

»Ich war blauäugig und hatte eine rosa Brille«, sagt Küf Kaufmann über sein Eintreffen in Deutschland kurz nach der Wende in der Gerade-noch-DDR. »Heute ist beides nicht mehr der Fall.« Seine Vorstellungen von Deutschland seien damals, vor mehr als 30 Jahren, »naiv« gewesen.

Kaufmann, geboren 1947 in Marx an der Wolga und lange Jahre als Regisseur in Leningrad eine Berühmtheit, lebt seit 1991 in Leipzig. Er ist seit 2005 Vorsitzender der dortigen Israelitischen Religionsgemeinde und sitzt seit 2010 im Präsidium des Zentralrats der Juden. Im Kulturzentrum Ariowitsch-Haus empfängt er den angereisten Reporter zum Gespräch über den wachsenden Antisemitismus, den Rechtsruck in Sachsen und die drohenden Wahlerfolge der rechtsextremen AfD. Aus einem Schrank holt er, fast wie eine Devotionalie, einen alten Kleiderbügel des Kaufhauses der jüdischen Brüder Albert und Moritz Held in Leipzig-Lindenau aus der Vorkriegszeit hervor und reicht ihn dem Gast für dessen Jacke.

Küf Kaufmann ist die Unruhe anzumerken. Er sucht ein passendes Wort zum wachsenden Antisemitismus, entscheidet sich für »peinlich«. Er sagt: »Für mich ist es peinlich, unangenehm, dass man über Antisemitismus reden muss, dass es das Thema überhaupt gibt. Für mich ist peinlich, dass vor unserer Tür ein Polizeiauto steht, obwohl wir dankbar dafür sind, da es ja notwendig ist. Diese Notwendigkeit selbst ist mir peinlich in unserer Gesellschaft.«

Aus Angst verzichten manche darauf, sich als Juden zu erkennen zu geben

Kaufmann berichtet, dass manche in der Gemeinde inzwischen aus Angst darauf verzichten würden, sich als Juden zu erkennen zu geben. Dass einige beispielsweise im Kindergarten das koschere Essen für den Nachwuchs abbestellen würden, um bloß nicht aufzufallen.

Auf seinem Schreibtisch im Ariowitsch-Haus stehen Wimpel mit Flaggen der Sowjetunion und Deutschlands: »Antisemitische Erscheinungen habe ich überall auf der Welt erlebt«, erläutert er. Doch dass die Zahl der Bedrohungen nun gerade in Deutschland wachse, sei »ein besonderer Schlag in die Magengrube«.

Nach dem 7. Oktober 2023, dem Terror der Hamas, sei es noch schlimmer geworden: »Vieles, was gegen Israel gesagt wird, richtet sich auch gegen Juden. Der Judenhass ist überall spürbar.«

Kurz vor dem Gespräch, am frühen Morgen um 6.07 Uhr, hat Küf Kaufmann auf seinem Handy die Nachricht einer früheren Mitarbeiterin bekommen: »Guten Morgen. Wisst ihr das schon? LG«. Dazu ein Foto mit dem aufgeschlitzten Bild des Leipziger Holocaust-Überlebenden Leo Stimmler, Teil eines Erinnerungsprojekts des italienischen Fotografen Luigi Toscano im Leipziger Hauptbahnhof. Schon einige Tage zuvor waren einige der Porträts besudelt worden, manche bekamen Hitler-Bärtchen.

Zu der neuerlichen Schändung der Gedenkausstellung sagt Kaufmann: »Es fühlt sich so an, als hätte man mein Gesicht aufgeschnitten. Ich fühle mich mitverantwortlich dafür, dass ich ein Teil der Gesellschaft bin, in der sich Menschen überhaupt nicht schämen, so etwas zu tun.«

Was ist los im Land? Was ist los mit dem Land? Küf Kaufmann sagt, Willy Brandts Kniefall 1970 im ehemaligen Warschauer Ghetto sei für ihn prägend gewesen: »Dieses ›Nie wieder‹ war außerordentlich wichtig für mich. Damals habe ich nicht einmal geahnt, wie viele Diskussionen diese Geste in Deutschland selbst ausgelöst hat.«

Ein paar Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland startete Kaufmann mit dem Leipziger Kabarettisten Bernd-Lutz Lange das Programm »Fröhlich und meschugge«. In dem 2017 erschienenen Buch Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen schrieb Kaufmann über diese Zusammenarbeit, sie habe ihn in seinem »Gefühl der Zuneigung dem Sächsischen gegenüber nur bestärkt«.

Bei seinen Rundreisen durch den Freistaat habe er einen »ganzen Ozean menschlicher Wärme und Anteilnahme« erlebt, der die Kraft habe, »selbst die unangenehmsten Erscheinungen, die auf seiner Oberfläche sichtbar sein mögen oder sich in seinen vereinzelten Buchten tummeln, zu überdecken«.

Gilt diese Zuversicht auch heute noch? Gilt sie auch in einer Zeit, in der die Kette »unangenehmster Erscheinungen« nicht mehr abreißen will?

Eine Auswahl aus den vergangenen Wochen: In Lommatzsch in der Nähe von Meißen wird am 27. Januar eine Gedenktafel zerstört. Sie erinnert daran, dass Mitglieder der SS Ende April 1945 vor der Kirche der Kleinstadt 35 Zwangsarbeiter und einen 16-jährigen Jungen, der des Plünderns bezichtigt wurde, erschossen.

»Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?«

In der AfD gerät der Leipziger Stadtrat und sächsische Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich, ein aus dem Westen stammender Rechtsanwalt, unter Druck, weil er sich in seiner Rolle als Bundesschiedsrichter in einem Beschluss auf eines der antisemitischen Nürnberger Rassengesetze bezogen hat. Jahrelang hatte man Ulbrich in seiner Partei gewähren lassen.

Ende November 2023 wählte ihn die nordsächsische AfD einstimmig zum Direktkandidaten für die Landtagswahl. 2019 hatte Ulbrich nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle auf Facebook gepostet: »Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?«

Bei einer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragten Debatte im Dresdner Stadtrat über das jüdische Leben vor Ort überlässt die AfD-Fraktion ihre Redezeit Artur Abramovych, dem Bundesvorsitzenden der »Juden in der AfD«. Er spielt die rechtsextreme Bedrohung in Sachsen herunter: »Wenn Sie vorhaben sollten, Jude zu werden, und Angst haben, deswegen hier von Nazis verprügelt zu werden, dann kann ich Sie beruhigen. Die Gefahr ist in den sogenannten weltoffenen Bezirken weitaus höher als in den vermeintlichen Nazi-Hochburgen hier in Sachsen.«

In Freital bei Dresden sollte in diesem Jahr ein AfD-Landtagsabgeordneter die Rede zum Holocaust-Gedenktag halten, reihum sind traditionell alle Stadtratsfraktionen an der Reihe. Der örtliche CDU-Landtagskandidat verteidigt den Plan mit den Worten:

»Diese Partei wurde von den Freitaler Bürgern in den Stadtrat gewählt. Dies gilt es auch bei solchen Verfahren zu beachten.« Schließlich wird die Kranzniederlegung in der geplanten Form abgesagt – aber nicht, weil ein Faschist am 27. Januar sprechen sollte. Oberbürgermeister Uwe Rumberg (parteilos) sagt: »Ich sehe die Gefahr, dass die Sicherheit der Veranstaltung und der Teilnehmer nicht zu gewährleisten ist.«

In Leipzig mischen sich die Vertreter der AfD unter die Gäste des Eröffnungsempfangs einer Ausstellung über Anne Frank im Neuen Rathaus. Muss die Demokratie eine solche Umarmung von Rechtsextremen aushalten, gehört das als »Nebenprodukt« dazu?

Dass die AfD so agiert, ist auch in Görlitz ein Thema. Die Neue Synagoge dort ist heute Kultureinrichtung in städtischem Besitz und gehört damit der AfD quasi mit, denn die ist stärkste Fraktion im Stadtrat. In der Hausordnung steht, dass für verfassungsfeindliche Organisationen – demnach auch für die rechtsextreme AfD – im Kulturforum Görlitzer Synagoge kein Platz ist.

Nach Darstellung von Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU) sind bisher trotzdem »keine Komplikationen aufgetreten«. Denn die Satzung für das Kulturforum schließe »politische Veranstaltungen von vornherein aus«. Zum alltäglichen Umgang mit der AfD und einer Brandmauer sagt Ursu auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen: »Im Görlitzer Stadtrat werden alle Stadträtinnen und Stadträte gleich behandelt.«

Anfang Februar folgen in Dresden Zehntausende dem Aufruf zur Großdemonstration »Wir sind die Brandmauer«. Auf Plakaten der Teilnehmer stehen Parolen wie »Demokratie braucht keine Alternative« oder »AfD wählen ist so 1933«. Als erster Redner auf der Kundgebung spricht André Lang vom Beirat der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden. Er sagt, nicht jeder AfD-Wähler sei ein Nazi.

»Aber diesen braunen Rattenfängern hinterherzulaufen und ihnen die Stimme zu geben, bedeutet, Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wieder salonfähig zu machen.«

Mit Lang steht Gemeinderabbiner Akiva Weingarten auf der Bühne. Für die Jüdische Allgemeine schreibt er auf, was ihm wichtig ist: »Wir als Volk wissen aus eigener Erfahrung, wie ernst wir die Zunahme des Antisemitismus nehmen müssen. Wir hoffen, dass die Menschen um uns herum dies ebenfalls ernst nehmen. Als Enkel eines Holocaust-Überlebenden denke ich mir oft: Wenn es wieder richtig schlimm werden sollte – werden wir es diesmal früh genug erkennen, um rechtzeitig zu fliehen?«

Politische Bildungsarbeit im Ariowitsch-Haus

Das Ariowitsch-Haus in Leipzig verstärkt, als Antwort auf den Bedarf, seine politische Bildungsarbeit: Schulungen für Polizisten, Bundeswehrsoldaten oder Angehörige des Justizvollzugs. Mehr und mehr auch in der sächsischen Provinz, in Weißwasser, Torgau, Annaberg-Buchholz. Jutta Stahl-Klimmt, Projektleiterin »Abbau von Antisemitismus«, sagt zum neuen Arbeitsschwerpunkt des Kulturhauses: »Der Gemobbte schult den Mobber. Das hat schon eine kleine Perversion.«

Küf Kaufmann sagt auf die Frage, ob die AfD in Sachsen bei der Landtagswahl am 1. September stärkste Partei werden, gar den nächsten Ministerpräsidenten stellen könnte: »Ganz ehrlich – ich möchte mir das nicht vorstellen.« Er sei »dumm genug, um weiterhin optimistisch zu bleiben. Man könnte sagen, dass das typisch jüdisch ist. Dann ist das eben so.«

Doch in Wirklichkeit sei die Stimmung »getrübt, sie ist nachdenklicher geworden«. Aufgeben indes komme zumindest für ihn nicht infrage. Doch man müsse wissen: »Wir sind nur eine kleine Zelle in der Gesellschaft. Wichtig ist, dass viele solcher Zellen zusammen funktionieren, damit nicht die ganz große Krankheit im Land ausbricht.«